Die Mäusestrategie

Auszug aus: Die Mäuse-Strategie für Manager – Veränderungen erfolgreich begegnen; von Spencer Johnson: Heinrich Hugendubel, München 2001, 104 Seiten

Die Geschichte

In einem weit entfernten Land lebten vor langer Zeit vier kleine Wesen in einem Labyrinth. In diesem Labyrinth liefen sie unaufhörlich herum und suchten nach Käse, der sie satt und glücklich machte. Zwei der Wesen waren Mäuse namens „Schnüffel“ und „Wusel“, und zwei waren Zwergenmenschen – Wesen, die so winzig wie Mäuse waren, aber ganz ähnlich aussahen und sich ähnlich verhielten wie die Menschen von heute. Sie hießen „Grübel“ und „Knobel“.

Weil die vier so klein waren, konnte man leicht übersehen, was sie taten. Aber wenn man nur genau genug hinblickte, konnte man die erstaunlichsten Dinge entdecken! Die Mäuse und das Zwergenpaar verbrachten jeden Tag im Labyrinth und suchten dort nach ihrem ganz speziellen Käse. Die Mäuse, Schnüffel und Wusel, besaßen zwar nur einfache Nagergehirne, dafür aber einen guten Instinkt. Sie suchten nach dem harten Knabberkäse, den sie, wie viele Mäuse, so gerne mochten. Die beiden Zwergenmenschen, Grübel und Knobel, benutzten ihre Gehirne, die randvoll mit Meinungen und Überzeugungen waren, um eine ganz andere Art von Käse zu suchen. Einen Käse, der ihnen, wie sie glaubten, das Gefühl geben würde, glücklich und erfolgreich zu sein.

So verschieden die Mäuse und die Zwergenmenschen auch waren, eines hatten sie gemeinsam: Jeden Morgen zog jeder von ihnen seinen Jogginganzug und seine Laufschuhe an, verließ seine kleine Wohnung und rannte ins Labyrinth hinaus, um seinen Lieblingskäse zu suchen. Das Labyrinth war ein Gewirr von Korridoren und Kammern, von denen manche köstlichen Käse enthielten. Es gab jedoch auch dunkle Ecken und Sackgassen, die nirgendwohin führten. Man konnte sich in dem Labyrinth leicht verirren. Doch für den, der sich zurechtfand, hielt das Labyrinth Geheimnisse bereit, die ihm zu einem schöneren Leben verhalfen.

Die Mäuse, Schnüffel und Wusel, wandten die simple, aber wenig effektive empirische Methode an, um Käse zu finden. Sie liefen einfach einen Gang hinunter, und wenn der sich als leer erwies, kehrten sie um und nahmen sich einen anderen Gang vor. Schnüffel, der über einen hervorragenden Riecher verfügte, machte die ungefähre Richtung aus, in der der Käse zu finden war, und Wusel rannte dann voraus. Wie man sich denken kann, verirrten sie sich oft, liefen in die falsche Richtung und rannten häufig gegen eine Wand. Die beiden Zwergenmenschen, Grübel und Knobel, wandten dagegen eine andere Methode an. Sie beruhte auf ihrer Fähigkeit zu denken und aus früheren Erfahrungen zu lernen. Allerdings brachten ihre Überzeugungen und Gefühle sie manchmal durcheinander. Schließlich fanden sie dann alle auf ihre eigene Weise das, was sie gesucht hatten: jeder von ihnen entdeckte eines Tages am Ende eines Korridors seine ganz spezielle Käsesorte im Käselager K.

Von nun an zogen die Mäuse und das Zwergenpaar jeden Morgen ihre Laufkleidung an und begaben sich ins Käselager K. Bald entwickelte dabei jeder seine eigenen Gewohnheiten.

Schnüffel und Wusel wachten weiterhin jeden morgen früh auf und rannten durch das Labyrinth, immer dieselbe Strecke entlang. Wenn sie am Ziel waren, zogen sie ihre Laufschuhe aus, banden sie zusammen und hingen sie sich um den Hals – damit sie sie schnell wieder anziehen konnten, sobald sie sie brauchten. Dann ließen sie sich den Käse schmecken. Grübel und Knobel rannten zunächst auch jeden Morgen zum Käselager K, um die köstlichen Bissen zu genießen, die dort auf sie warteten.

Doch nach einer Weile nahmen die Zwergenmenschen andere Gewohnheiten an. Grübel und Knobel wachten jeden Tag ein bisschen später auf, zogen sich ein bisschen langsamer an und spazierten zum Käselager K. Schließlich wussten sie jetzt, wo man den Käse fand und wie man dorthin gelangte. Sie hatten keine Ahnung, woher der Käse stammte oder wer ihn dorthin brachte. Sie nahmen einfach an, dass er schon da sein würde. Sobald Grübel und Knobel morgens im Käselager K angekommen waren, ließen sie sich nieder und machten es sich gemütlich. Sie hingen ihre Jogginganzüge auf, stellten die Laufschuhe beiseite und zogen ihre Pantoffeln an. Jetzt, wo sie den Käse gefunden hatten, fanden sie das Leben sehr bequem.

„Das ist toll“, sagte Grübel. „Hier gibt es für alle Zeit und Ewigkeit genügend Käse.“ Das Zwergenpaar fühlte sich glücklich und erfolgreich und dachte, dass es nun ausgesorgt hätte.

Es dauerte nicht lange, bis Grübel und Knobel den Käse, den sie im Käselager K gefunden hatten, als ihren Käse betrachteten. Der Käsevorrat war so riesig, dass sie schließlich ihre Wohnung näher an das Lager verlegten und ein gesellschaftliches Leben um das Lager herum aufbauten. Um sich heimischer zu fühlen, verzierten Grübel und Knobel die Wände mit Sprüchen und zeichneten sogar Käsebilder drumherum, die sie zum Lächeln brachten.

Einer der Sprüche lautete:

Wer Käse hat, ist glücklich!

Hin und wieder luden Grübel und Knobel ihre Freunde ein, um ihnen ihren Käsehaufen im Käselager K vorzuführen. Sie zeigten voller Stolz darauf und sagten: „Ganz ordentlich, der Käse da, oder vielleicht nicht?“ Manchmal gaben sie ihren Freunden von dem Käse ab, manchmal auch nicht. „Wir haben diesen Käse verdient“, sagte Grübel. „Schließlich mussten wir lang und schwer genug arbeiten, um ihn zu finden.“ Er hob ein leckeres, frisches Stücken auf und aß es. Jeden Abend watschelten die Zwergenmenschen, randvoll mit Käse, in ihre Wohnungen zurück. Und jeden Morgen kamen sie zuversichtlich wieder ins Lager, um sich noch mehr Käse zu holen.

Das ging eine ganze Weile so weiter. Nach einer Weile verwandelte sich Grübels und Knobels Zuversicht in Arroganz. Bald fühlten sich die beiden so wohl, dass sie gar nicht mehr merkten, was vor sich ging. Schnüffel und Wusel dagegen behielten ihre Gewohnheiten die ganze Zeit bei. Sie kamen frühmorgens, schnüffelten, scharrten und huschten im Käselager K herum und inspizierten das Terrain, um herauszufinden, ob sich seit dem vorigen Tag etwas verändert hatte. Dann hockten sie sich hin und knabberten am Käse.

Eines Morgens kamen sie im Käselager K an und entdeckten, dass kein Käse da war. Das überraschte sie nicht. Da Schnüffel und Wusel bemerkt hatten, dass der Käsevorrat Tag für Tag kleiner geworden war, waren sie auf das Unvermeidliche gefasst und wussten instinktiv, was zu tun war. Sie blickten sich an, griffen zu den Laufschuhen, die sie zusammengebunden und sich griffbereit um den Hals gehängt hatten, zogen sie an und schnürten sie zu. Die Mäuse analysierten die Lage nicht übermäßig und belasteten sich auch nicht mit komplizierten Überlegungen. Beide blickten ins Labyrinth hinaus. Dann hob Schnüffel seine Nase, schnupperte und nickte Wusel zu, der ins Labyrinth hinein vorausrannte, während Schnüffel ihm nachlief, so rasch er nur konnte. So waren sie schnell auf und davon, um neuen Käse zu suchen.

Später am selben Tag kamen Grübel und Knobel im Käselager K an. Da sie den kleinen Veränderungen, die sich jeden Tag ereignet hatten, keine Beachtung geschenkt hatten, hielten sie es für selbstverständlich, dass ihr Käse da sein würde. Auf das, was sie vorfanden, waren sie nicht vorbereitet. „Was! Kein Käse?“ schrie Grübel auf. Und er schrie weiter: „Kein Käse? Kein Käse? Kein Käse?“, als ob jemand den Käse zurückbringen würde, wenn er nur genügend Lärm schlug. „Wer hat meinen Käse geklaut?“ brüllte er. Schließlich stemmte er die Hände in die Hüften, sein Gesicht lief rot an, und er schrie aus Leibeskräften: „Das ist nicht fair!“.

Knobel schüttelte einfach nur ungläubig den Kopf. Auch er hatte sich darauf verlassen, dass sie im Käselager K Käse finden würden. Lange stand er da, so entsetzt, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Auf diesen Anblick war er schlicht nicht vorbereitet. Die Reaktion des Zwergenpaares war zwar nicht sonderlich ansprechend oder produktiv – aber verständlich war sie schon.

Käse finden war nicht einfach, und ihn zu haben, bedeutete für die Zwergenmenschen viel mehr, als nur jeden Tag genügend davon essen zu können. Für manche bedeutete Käse zu finden, materielle Güter zu besitzen. Für andere bedeutete es, gesund zu sein oder ein seelisches Wohlgefühl zu entwickeln. Für Knobel bedeutet Käse einfach, dass er sich geborgen fühlen konnte, eines Tages eine liebevolle Familie um sich zu haben und in einem gemütlichen Häuschen in der Cheddarstrasse wohnen würde. Für Grübel bedeutete Käse, ein großes Tier in leitender Position zu werden und eine tolle Villa ganz oben auf dem Camembert-Hügel zu besitzen. Weil der Käse ihnen so wichtig war, überlegten die beiden lange hin und her und versuchten zu entscheiden, was sie nun anfangen sollten. Ihnen fiel aber nichts anderes ein, als sich weiter im Käselager K umzusehen, um festzustellen, ob der Käse denn wirklich weg war. Sie schimpften lauthals, wie ungerecht das alles sei. Knobel wurde deprimiert. Was, wenn morgen auch kein Käse da sein würde? Schließlich hatte er Zukunftspläne geschmiedet, die von diesem Käse abhingen. Das Zwergenpaar konnte es einfach nicht fassen. Wie hatte das nur passieren können? Niemand hatte sie gewarnt. Es war nicht gerecht. Es war einfach nicht so, wie es sein sollte.

An diesem Abend zogen Grübel und Knobel hungrig und entmutigt nach Hause. Aber bevor sie gingen, schrieb Knobel an die Wand:

Je wichtiger dir dein Käse ist, desto mehr willst du ihn behalten!

Am folgenden Tag verließen Grübel und Knobel ihre Wohnungen und kehrten wieder ins Käselager K zurück. Irgendwie erwarteten sie immer noch, dass sie dort ihren Käse finden würden. Doch nichts hatte sich verändert, der Käse war nicht mehr da. Das Zwergenpaar wusste nicht, was es tun sollte. Die beiden blieben einfach stehen, starr wie zwei Salzsäulen. Knobel kniff die Augen zusammen, so fest er nur konnte, und presste die Hände auf die Ohren. Er wollte nichts mehr hören und sehen. Dass der Käsevorrat schon seit langem immer kleiner geworden war, wollte er nicht wahrhaben. Er glaubte, dass man ihn auf einen Schlag fortgebracht hätte. Grübel analysierte die Situation immer wieder aufs Neue, und schließlich setzte sich das riesige Geflecht aus vor gefassten Überzeugungen in seinem Gehirn durch. „Warum haben sie mir das angetan?“ fragte er. „Was geht hier eigentlich vor?“

Irgendwann öffnete Knobel dann die Augen, sah sich um und sagte: „Übrigens, wo sind eigentlich Schnüffel und Wusel? Glaubst Du, dass sie mehr wissen als wir?“ „Was sollen die schon wissen?“ schnaubte Grübel verächtlich. „Das sind doch bloß einfache Mäuse“, fuhr er fort. „Sie reagieren lediglich auf die Umstände. Wir sind Zwergenmenschen. Wir sind etwas Besonderes. Wir sollten im Stande sein zu klären, was hier los ist. Und außerdem haben wir Besseres verdient. Falls wir das nicht erleben sollten, dann sollten wir zumindest eine Entschädigung bekommen.“ „Warum sollten wir eine Entschädigung bekommen?“ fragte Knobel. „Weil wir einen Anspruch haben», behauptete Grübel. „Anspruch worauf?“ wollte Knobel wissen. „Wir haben Anspruch auf unseren Käse.“ „Warum?“ frage Knobel. „Weil wir dieses Problem nicht verursacht haben“, sagte Grübel. „Das war jemand anderer, und wir sollten etwas dafür bekommen.“ „Vielleicht“, schlug Knobel vor, „sollten wir aufhören, dauernd die Lage zu sondieren, und einfach losziehen, um neuen Käse zu suchen.“ „Oh nein“, widersprach Grübel. „Ich werde dieser Sache auf den Grund gehen.“

Während Grübel und Knobel immer noch versuchten, zu einer Entscheidung zu gelangen, was nun zu tun sein, waren Schnüffel und Wusel schon gut vorangekommen. Sie drangen tiefer ins Labyrinth vor, liefen die Gänge hinauf und hinunter und suchten in jedem Käselager, das ihnen unterkam, nach Käse. Sie hatten nichts anderes im Sinn, als neuen Käse zu finden. Eine ganze Weile lang fanden sie keinen, bis sie einen Teil des Labyrinths gelangten, in dem sie noch nie zuvor gewesen waren: in das Käselager N. Sie quiekten vor Entzücken. Hier war, was sie gesucht hatten: ein riesiger Vorrat an neuem Käse. Sie trauten ihren Augen kaum. Denn hier lag der größte Käsevorrat, den die Mäuse jemals gesehen hatten.

Grübel und Knobel waren währenddessen immer noch im Käselager K und überdachten ihre Lage. Inzwischen begannen sie, die Auswirkungen des Käsemangels zu spüren. Sie wurden frustriert und wütend und machten sich gegenseitig dafür verantwortlich, dass sie in diese Situation geraten waren.

Knobel dachte gelegentlich an seine Mäusekumpane, Schnüffel und Wusel, und fragte sich, ob sie wohl schon irgendwas an Käse gefunden hatten. Er vermutete, dass sie es vielleicht schwer hatten, denn für gewöhnlich war es eine reichlich unsichere Angelegenheit, durch das Labyrinth zu laufen. Aber er wusste auch, dass die Unsicherheit wahrscheinlich nur eine gewisse Zeit anhalten würde. Manchmal stellte sich Knobel vor, wie Schnüffel und Wusel neuen Käse entdeckten und ihn sich schmecken ließen. Er dachte daran, wie gut es für ihn wäre, wenn er sich auf den abenteuerlichen Weg durch das Labyrinth machen und leckeren neuen Käse finden würde. Er konnte den Käse beinahe schon schmecken.

Je klarer Knobel das Bild vor Augen stand, wie er neuen Käse fand und genüsslich aß, desto besser konnte er sich vorstellen, das Käselager K zu verlassen. „Gehen wir!“ rief er ganz plötzlich aus. „Nein“, gab Grübel sofort zurück. „Mir gefällt es hier. Hier ist es bequem. Hier kenne ich mich aus. Und außerdem ist es da draußen gefährlich.“ „Ist es nicht“, widersprach Knobel. „Wir sind früher durch viele Teile dieses Labyrinths gelaufen, und das können wir auch jetzt wieder.“ „Ich werde zu alt für so was, sagte Grübel. „Und ich habe keine Lust, mich zu verirren und mich lächerlich zu machen. Du vielleicht?“ Als Knobel das hörte, packte ihn wieder die Angst vor dem Scheitern, und seine Hoffnung, neuen Käse zu finden, schwand dahin.

Also machte das Zwergenpaar weiterhin Tag für Tag dasselbe. Sie gingen zum Käselager K, fanden keinen Käse und zogen mitsamt ihren Sorgen und Enttäuschungen wieder nach Hause zurück. Sie versuchten, die Tatsachen zu leugnen, aber es fiel ihnen immer schwerer

einzuschlafen, so dass sie am nächsten Tag noch weniger Antrieb hatten und reizbar wurden. Ihre Wohnungen waren nicht mehr die behaglichen Plätzchen von einst. Die Zwergenmenschen fanden kaum Schlaf und wurden von Alpträumen geplagt, in denen sie keinen Käse fanden. Und dennoch kehrten Grübel und Knobel immer wieder ins Käselager K zurück und harrten dort jeden Tag aus. Grübel sagte: „Weißt Du, wenn wir uns nur mehr bemühen, wird sich herausstellen, das sich gar nicht groß was verändert hat. Der Käse ist wahrscheinlich ganz in der Nähe. Vielleicht haben sie ihn nur hinter der Mauer versteckt.“

Am nächsten Tag kamen Grübel und Knobel mit Werkzeug zurück. Grübel hielt den Meißel, während Knobel mit dem Hammer schlug, bis die Wand des Käselagers ein Loch hatte. Sie spähten hinein, aber sie fanden keinen Käse. Das enttäuschte sie zwar, aber sie glaubten trotzdem, das Problem lösen zu können. Also fingen sie früher an, blieben länger und arbeiteten härter. Aber nach einer Weile hatten sie immer noch nichts außer einem Riesenloch in der Wand. „Vielleicht“, meinte Grübel, „sollten wir uns einfach hinsetzen und abwarten. Früher oder später müssen sie den Käse doch zurückbringen.“

Knobel wollte das auch gerne glauben. Also ging er jeden Tag heim, um sich auszuruhen, und kehrte dann zögernd mit Grübel zum Käselager K zurück. Aber dort tauchte nie wieder Käse auf.

Inzwischen war das Zwergenpaar durch den Hunger und den Stress geschwächt. Knobel hatte es allmählich satt, darauf zu warten, dass sich die Lage bessern würde. Er erkannte immer mehr, dass sie umso schlechter dran sein würden, je länger sie in ihrer käselosen Lage verharrten. Knobel wusste, dass ihre Chancen immer mehr schwanden.

Eines Tages begann Knobel schließlich, über sich selbst zu lachen. „Ha, ha, schau dich doch mal selber an. Da mache ich immer das gleiche, und dann frage ich mich, warum es nicht besser wird. Das ist doch wirklich zu lächerlich.“ Knobel gefiel zwar die Vorstellung nicht, wieder durch das Labyrinth laufen zu müssen, denn er wusste, dass er sich verirrten und keine Ahnung haben würde, wo er Käse auftreiben könnte. Aber er musste über seine eigene Dummheit lachen, als er erkannte, was seine Furcht mit ihm anstellte.

Er fragte Grübel: „Wo haben wir eigentlich unsere Jogginganzüge und Laufschuhe hingetan?“. Es dauerte lange, bis er sie gefunden hatte, denn nachdem sie im Käselager K ihren Käse entdeckt hatten, war alles weggepackt worden, weil sie geglaubt hatten, sie würden die Sachen nicht mehr brauchen. Als Grübel sah, wie sein Freund in die Laufkleidung schlüpfte, sagte er: „Du willst doch nicht etwa wieder ins Labyrinth hinaus, oder? Warum wartest Du nicht einfach hier mit mir, bis sie den Käse zurückbringen?“ „Weil er einfach nicht mehr zurückkommt“, sagte Knobel. „Ich wollte das auch nicht einsehen, aber jetzt ist mir klar, dass sie den alten Käse nie zurückbringen werde. Das war Käse von gestern. Jetzt ist es Zeit, neuen Käse zu finden.“ Grübel wandte ein: „Aber was, wenn es da draußen keinen Käse gibt? Oder wenn doch welcher da ist – was, wenn Du ihn nicht findest?“

„Keine Ahnung“, antwortete Knobel. Er hatte sich diese Fragen selbst schon allzu oft gestellt, und er spürte, wie die Ängste wieder hochkamen, die ihn da festhielten, wo er jetzt war. Dann aber dachte er daran, wie es sein würde, neuen Käse zu finden, und stellte sich die vielen schönen Dinge vor, die damit verbunden waren. Und so nahm er allen Mut zusammen. „Manchmal“, sagte Knobel, „verändert sich etwas und wird nie mehr so, wie es mal war. Scheint, als ob das jetzt passiert wäre, Grübel. So ist das Leben! Das Leben geht weiter. Und wir sollten mitgehen.“

Knobel schaute seinen ausgezehrten Gefährten an und versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen. Aber Grübels Furcht hatte sich in Ärger verwandelt; er wollte nicht hören. Knobel wollte seinen Freund nicht beleidigen, aber er musste einfach darüber lachen, wie dumm sie beide aussahen. Als Knobel sich zum Gehen fertig machte, fühlte er sich schon lebendiger, denn er wusste, dass er nun endlich über sich selbst lachen, loslassen und etwas Neues machen konnte. Er verkündete: „Das Labyrinth wartet!“ Grübel lachte nicht und gab auch keine Antwort.

Knobel hob einen kleinen, spitzen Stein auf und ritzte damit einen Sinnspruch in die Wand, über den Grübel nachdenken sollte. Wie gewohnt, malte Knobel sogar ein Käsebild um den Spruch herum und hoffte, es würde Grübel vielleicht dazu bringen, zu lächeln, sich einen Ruck zu geben und sich auf die Jagd nach dem neuen Käse zu machen. Aber Grübel wollte das Bild nicht sehen. Der Spruch lautete:

Wer sich nicht ändert, kann untergehen!

Dann streckte Knobel seinen Kopf hinaus und spähte vorsichtig in das Labyrinth. Er dachte daran, wie er sich in diese käselose Lage gebracht hatte. Er hatte geglaubt, dass vielleicht kein Käse im Labyrinth sei oder dass er ihn vielleicht nicht finden würde. Solch angstvolle Überzeugungen machten ihn unbeweglich und richteten ihn zu Grunde. Knobel lächelte. Er wusste, dass Grübel sich fragte: „Wer hat mir meinen Käse weggenommen?“ Knobel jedoch fragte sich jetzt: „Warum habe ich mich bloß nicht schon früher aufgerafft und bin dahin gegangen, wo der Käse ist?“ Als Knobel sich auf den Weg ins Labyrinth machte, blickte er zu dem Ort zurück, von dem er gekommen war, und spürte, welchen Trost er bot. Er konnte fühlen, wie ihn etwas in sein gewohntes Terrain zurückzog obwohl er dort schon lange keinen Käse mehr gefunden hatte. Knobel wurde ängstlich und fragte sich, ob er sich wirklich ins Labyrinth hinauswagen wollte. Er schrieb einen Spruch an die gegenüberliegende Wand und starrte eine Zeit lang darauf:

Was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest?

Er dachte darüber nach. Er wusste, dass Angst manchmal nützlich sein kann. Wenn man befürchtet, dass die Lage noch schlechter wird, falls man nichts unternimmt, kann die Angst einen zum Handeln bewegen. Aber es ist nicht gut, wenn man so große Angst hat, dass sie einen davon abhält, irgendwas zu tun. Er blickte nach rechts, zu dem Teil des Labyrinths, in dem er noch nie gewesen war, und spürte die Angst. Dann atmete er tief durch, wandte sich nach rechts und joggte langsam los, hinein ins Unbekannte.

Ein Teil dieser Geschichte ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht abgebildet.

Knobel erkannte wieder, was er früher schon einmal gemerkt hatte: Das, wovor man sich fürchtet, ist in Wirklichkeit nie so schlimm wie in der eigenen Vorstellung. Die Furcht, die man in seinem Inneren aufsteigen lässt, ist schlimmer als die Situation, die in Wirklichkeit existiert.

Er hatte solche Angst gehabt, er würde ja doch nie neuen Käse finden, dass er nicht einmal mehr zu suchen anfangen wollte. Aber seit er aufgebrochen war, hatte er in den Korridoren genügend Käse gefunden, um weitermachen zu können. Jetzt freute er sich darauf, noch mehr zu finden. Schon der Blick nach vorne genügte, um ihn in Aufregung zu versetzen.

Seine alte Denkweise war von seinen Sorgen und Ängsten überschattet worden. Seine Gedanken hatten immer, darum gekreist, dass er nicht genügend Käse haben oder der Käse nicht so lange reichen würde, wie er es sich wünschte. Er hatte mehr darüber nachgedacht, was schief laufen, als was gut gehen könnte. Aber seit er das Käselager K verlassen hatte, hatte sich das geändert.

Er hatte immer geglaubt, der Käse müsse stets an Ort und Stelle bleiben und Veränderungen seien nicht rechtens. Jetzt erkannte er, dass ständige Veränderungen die natürlichste Sache der Welt waren – ob man sie nun erwartete oder nicht. Veränderungen konnten einen nur überraschen, wenn man nicht auf sie gefasst war und nicht nach ihnen Ausschau hielt. Als ihm klar wurde, dass er seine Überzeugungen geändert hatte, machte er Halt und schrieb an die Wand:

Alte Überzeugungen führen dich nicht zu neuem Käse!

Knobel hatte zwar noch keinen neuen Käse gefunden, doch während er durchs Labyrinth lief, dachte er über das nach was er bereits gelernt hatte. Er erkannte jetzt, dass ihn seine neue Einstellung auch zu neuen Verhaltensweisen anregte. Er verhielt sich jetzt ganz anders als damals, als er immer in dasselbe „Lager Käselos“ zurückgekehrt war. Er wusste jetzt: Wenn man seine Überzeugungen verändert, verändert man auch sein Verhalten. Man kann glauben, man werde durch eine Veränderung Schaden nehmen, und sich deshalb dagegen sperren. Oder man kann glauben, dass man an der Veränderung leichter Gefallen findet, wenn man neuen Käse entdeckt. Es hängt alles davon ab, was man glauben will. Er schrieb an die Wand:

Wenn du erkennst, dass du neuen Käse finden und genießen kannst, änderst du den Kurs!

Knobel wusste, dass er jetzt in besserer Verfassung wäre wenn er die Veränderung schon viel früher angenommen und das Käselager K eher verlassen hätte. Er würde sich körperlich und geistig stärker fühlen und wäre mit der Herausforderung, neuen Käse zu finden, leichter zurechtgekommen.

Tatsächlich hätte er ihn inzwischen wahrscheinlich sogar schon gefunden, wäre er doch nur auf die Veränderung gefasst gewesen und hätte er nicht seine Zeit damit verschwendet, eine bereits eingetretene Veränderung zu leugnen. Er nahm all seine Willenskraft zusammen und beschloss, weiter in die neueren Teile des Labyrinths vorzudringen. Hie und da entdeckte er kleine Käsestücke und wurde wieder kräftiger und zuversichtlicher. Wenn er an den Ort zurückdachte, von dem er ausgezogen war, war Knobel froh, an vielen Stellen etwas an die Wand geschrieben zu haben. Er war zuversichtlich, dass die Inschriften als deutlicher Wegweiser dienen würden, falls Grübel sich entschloss, das Käselager K doch zu verlassen und ihm durch das Labyrinth zu folgen. Er hoffte nur, dass er die richtige Richtung eingeschlagen hatte. Er dachte daran, wie Grübel die Handschrift an der Wand vielleicht lesen und so den Weg finden würde. Er notierte einen Gedanken an der Wand, der ihn schon geraume Zeit bewegte:

Wer kleine Änderungen früh bemerkt, passt sich an die großen später leichter an!

Mittlerweile hatte Knobel vom Vergangenen Abschied genommen und war dabei, sich auf die Zukunft einzustellen. Schneller und mit neu gewonnener Stärke lief er weiter durch das Labyrinth. Und dann, nicht lange danach, geschah es. Knobel fand neuen Käse im Käselager N!

Er ging hinein und konnte seinen Augen kaum trauen. Hoch aufgetürmt, lag hier der größte Käsevorrat, den er je gesehen hatte. Er erkannte gar nicht alles, was er sah, denn einige Käsesorten waren ihm neu. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob dies Wirklichkeit oder nur Einbildung war, bis er seine alten Freunde Schnüffel und Wusel entdeckte.

Schnüffel begrüßte Knobel mit einem Kopfnicken und Wusel winkte ihm mit der Pfote zu. An ihren runden kleinen Bäuchen konnte man erkennen, wie lange sie schon hier waren. Knobel sagte schnell hallo und kostete dann von all den Käsesorten, die er am liebsten mochte. Er zog seine Schuhe und seinen Jogginganzug aus und legte alles ordentlich in der Nähe hin, für den Fall, dass er die Sachen wieder brauchen sollte. Dann stürzte er sich auf den neuen Käse. Als er satt war, hob er ein Stück saftigen Käse hoch und brachte einen Toast aus.

„Ein Hoch auf die Veränderung!“.

Während Knobel sich den neuen Käse schmecken ließ, dachte er über das nach, was er gelernt hatte. Als er noch Angst gehabt hatte, sich zu verändern, so erkannte er, hatte er sich an die Illusion vom alten Käse geklammert, der gar nicht mehr da war. Was also hatte ihn dazu gebracht, sich zu ändern? War es die Angst vor dem Verhungern gewesen? Knobel dachte: „Na ja, ihren Teil hat sie schon getan.“ Dann lachte er und erkannte, dass er sich von dem Moment an zu ändern begonnen hatte, als er gelernt hatte, über sich selbst und seine Fehler zu lachen. Ihm wurde klar, dass man sich am schnellsten verändert, wenn über seine eigene Dummheit lacht – dann kann man das Vergangene loslassen und rasch zu neuen Ufern aufbrechen. Er wusste, dass er etwas Nützliches über das Weiterziehen von seinen Mäusekumpanen Schnüffel und Wusel gelernt hatte. Sie machten sich das Leben einfach. Sie analysierten nicht zu viel herum und machten die Dinge nicht komplizierter, als sie waren. Als sich die Lage geändert hatte und der Käse weg war, änderten sie sich auch und zogen dem Käse nach. Daran würde er in Zukunft denken. Dann gebrauchte Knobel sein wunderbares Gehirn, um das zu tun, was Zwergenmenschen besser können als Mäuse.

Er dachte über die Fehler nach, die er in der Vergangenheit gemacht hatte, und nutzte sie, um seine Zukunft zu planen. Er wusste, dass man lernen konnte, mit Veränderungen umzugehen: Man kann bewusster daran arbeiten, sich das Leben weniger kompliziert zu gestalten, flexibel und beweglich zu bleiben. Man muss sich die Dinge nicht übermäßig schwer machen oder sich selbst mit Befürchtungen verwirren. Man kann auf kleine Veränderungen achten, um dann besser auf die große Veränderung vorbereitet zu sein, die vielleicht bevorsteht.

Knobel wusste, dass er sich von nun an schneller anpassen musste, denn wenn man sich nicht rechtzeitig anpasst, kann man es genauso gut gleich bleiben lassen. Er musste zugeben, dass die größte Hemmschwelle gegen Veränderungen im eigenen Inneren liegt und dass nichts besser wird, solange man sich nicht selbst ändert. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis bestand darin, dass es dort draußen immer neuen Käse gibt, ob man es im Augenblick nun erkennt oder nicht. Und dass man mit diesem Käse belohnt wird, wenn man seine Furcht überwindet und das Abenteuer genießt.

Knobel wusste: Ein gewisses Maß an Furcht sollte man respektieren, weil es einen vor echten Gefahren bewahren kann. Doch ihm war klar geworden, dass der Grossteil seiner Ängste irrational gewesen war und ihn davon abgehalten hatte, sich zu verändern, als es nötig wurde.

Auch wenn es ihm nicht gefallen hatte, als es soweit war – er wusste, dass sich die Veränderung im nach hinein als Segen erwiesen hatte, weil sie ihn zu besserem Käse geführt hatte. Sogar zu einem besseren Teil seines Ichs hatte sie ihn geführt. Während Knobel sich vergegenwärtigte, was er gelernt hatte, fiel ihm sein Freund Grübel ein. Er fragte sich, ob Grübel einen von den Sprüchen gelesen hatte, die Knobel im Käselager K und im ganzen Labyrinth an die Wände geschrieben hatte. Hatte Grübel sich je dazu entschlossen, das Vergangene hinter sich zu lassen und zu neuen Wegen aufzubrechen? War er je ins Labyrinth hinausgegangen und hatte entdeckt, was sein Leben besser machen konnte?

Knobel überlegte sich, ob er ins Käselager K zurückkehren und nachschauen sollte, ob Grübel noch dort war – vorausgesetzt, er fände selbst den Weg dorthin zurück. Falls er Grübel anträfe, dachte er, er könnte ihm vielleicht zeigen wie er aus seiner misslichen Lage herauskommen könnte. Doch Knobel erkannte, dass er bereits versucht hatte, seinen Freund zur Änderung zu bewegen. Grübel musste seinen eigenen Weg finden, musste das hinter sich lassen, was ihm Trost spendete, und seine Ängste überwinden. Kein anderer konnte das für ihn tun oder ihn dazu überreden. Auf irgendeine Weise musste er selbst einsehen, dass es nützlich war, sich zu verändern. Knobel wusste: Er hatte eine Spur für Grübel hinterlassen, und Grübel konnte den Weg finden, wenn er nur imstande war, die Handschrift an der Wand zu lesen. Er fing noch einmal an und schrieb auf die größte Wand des Käselagers N eine Zusammenfassung all dessen, was er gelernt hatte. Er malte ein großes Käsestück um die Einsichten, die er gewonnen hatte, und lächelte, als er sah, was er alles dazugelernt hatte:

Es wird sich etwas ändern! Der Käse bleibt nicht für immer.

Sei auf Veränderungen vorbereitet!

Mache dich darauf gefasst, dass der Käse verschwindet.

Beobachte die Veränderungen!

Schnuppre oft am Käse, damit Du merkst, wenn er alt wird.

Pass dich schnell an Veränderungen an!

Je schneller du alten Käse sausen lässt, desto eher kannst du neuen Käse genießen.

Verändere dich! Folge dem Käse.

Genieß die Veränderung!

Koste das Abenteuer aus und lass dir den neuen Käse schmecken

Mache dich darauf gefasst, dich schnell zu ändern, und hab wieder Spaß daran!

Der Käse wird immer wieder verschwinden.

Knobel erkannte, wie weit er es gebracht hatte, seit er mit Grübel im Käselager K gewesen war. Er wusste aber auch, dass er leicht in seine alten Gewohnheiten zurückfallen konnte, wenn er sich zu bequem einrichtete.

Also inspizierte er jeden Tag das Käselager N, um zu prüfen, in welchem Zustand sein Käse war. Er wollte alles nur Mögliche unternehmen, Überraschungen durch unvorhergesehene Veränderungen zu vermeiden. Obwohl Knobel immer noch einen großen Käsevorrat hatte, ging er oft hinaus und erforschte neue Teile des Labyrinths, um am Ball zu bleiben und stets zu wissen, was um ihn herum vorging. Er wusste, dass es sicherer war, sich über seine realen Möglichkeiten im Klaren zu sein, als sich auf vertrautem Gebiet zu isolieren.

Dann hörte Knobel ein Geräusch. Es klang, als ob sich draußen im Labyrinth etwas bewegte. Als das Geräusch lauter wurde, ging ihm auf, dass da jemand näher kam. Könnte es Grübel sein? Würde er gleich um die Ecke biegen?

Knobel sprach ein kleines Gebet und hoffte – wie schon so oft zuvor -, dass sein Freund es vielleicht endlich geschafft hatte…

… den Käse zu suchen und ihn zu genießen!

ENDE